Die Staatengemeinschaft hat sich darauf verpflichtet, den menschengemachten Klimawandel auf 1,5 Grad zu begrenzen. Das Ziel wird illusorisch: Schon 2024 dürfte die Marke erstmals seit der Industrialisierung überschritten werden.
Im laufenden Jahr durchbricht die Welt das Klimaziel von 1,5 Grad menschengemachter Erwärmung. 2024 wird dem EU-Klimawandeldienst Copernicus zufolge nahezu sicher das erste Jahr seit Aufzeichnungsbeginn werden, in dem es im Durchschnitt mehr als 1,5 Grad wärmer als im vorindustriellen Mittel gewesen sein wird.
Copernicus prognostiziert für das laufende Jahr, dass die durchschnittliche Temperatur weltweit mindestens 1,55 Grad über dem weltweiten vorindustriellen Mittel liegen könnte. 2023 waren es 1,48 Grad. Schon damals sprach UN-Generalsekretär António Guterres von einem „Klimazusammenbruch“.
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„Dies stellt einen neuen Meilenstein in der globalen Temperaturaufzeichnung dar und sollte als Beschleuniger dienen, um die Ziele für die bevorstehende Klimakonferenz COP29 zu erhöhen“, sagte die Vizedirektorin des EU-Klimawandeldienstes, Samantha Burgess, zu den aktuellen Daten.
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Der Klimawissenschaftler Mojib Latif ist skeptisch, was die Schlagkraft des Treffens angeht: „Die COPs sind offensichtlich nicht zielführend, und in Baku wird es auch keinen Durchbruch geben“, sagte er der dpa. „Auch wenn man versuchen wird, die Abschlusserklärung als solchen zu verkaufen, wie so oft in den letzten Jahren.“
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Auf der Weltklimakonferenz 2015 in Paris hatten die Staaten weltweit vereinbart, die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu begrenzen, möglichst aber auf 1,5 Grad. „Das 1,5-Grad-Ziel hat einen hohen Symbolwert, erklärte der Klimawissenschaftler Steve Smith von der Universität Oxford. Eine klare Definition für diese politisch festgelegten Schwellen gibt es Experten zufolge allerdings bisher nicht.
„Womöglich hatte man nicht damit gerechnet, dass wir so schnell in den Bereich kommen würden, wo sich solche Fragen stellen“, sagte Helge Gößling, Klimaphysiker am Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven. Das Pariser 1,5-Grad-Ziel zur Eindämmung der Klimakrise gilt mit den aktuellen Daten aber bis jetzt nicht als verfehlt, da dafür auf längerfristige Durchschnittswerte geschaut wird.
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Politiker sähen es zumeist so, dass die 1,5-Grad-Schwelle erst als gerissen zu betrachten sei, wenn die mittlere Jahrestemperatur zwei Jahrzehnte lang dauerhaft über diesem Wert lag, sagte Latif, Seniorprofessor am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Eine solche Betrachtung sei jedoch unsinnig: Der Treibhausgas-Ausstoß sei auch im vergangenen Jahr wieder historisch hoch gewesen, alle Klimaparameter wiesen in die falsche Richtung. Es sei absolut klar, dass die Erderwärmung weiter zunehmen werde – für eine Bestätigung müsse man keine 20 Jahre warten.
Wann die 1,5-Grad-Schwelle als erreicht gilt, sei längst nicht mehr die Kernfrage, betonte auch Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).
„Wann sind wir bei den Emissionen auf netto Null, das muss das Ziel sein, darum muss es Wettbewerb geben.“ Ohne gestoppten Ausstoß werde es immer weiter einen Temperaturanstieg geben, sagte der Klimaforscher. Eine Folge seien mehr und stärkere Starkniederschläge, wie sie gerade erst die Region um Valencia in Spanien trafen. „Es werden weiter Menschen sterben, umso mehr, je stärker wir die Temperaturen nach oben treiben.“
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„Ohnehin ist es lächerlich, sich noch am 1,5-Grad-Ziel orientieren zu wollen“, sagte Latif. „Wir werden die 1,5 Grad reißen, und wir werden auch die zwei Grad reißen.“ Der CO₂-Gehalt in der Atmosphäre steige immer schneller – und Land und Meer könnten künftig weniger des Treibhausgases aufnehmen. „Der Wald in Deutschland zum Beispiel nimmt in der Gesamtbilanz kein Kohlendioxid mehr auf, sondern ist zur CO₂-Quelle geworden, weil es ihm so schlecht geht“, erläuterte der Klimaforscher. Ähnliche Entwicklungen gebe es in anderen Regionen der Erde.
Selbst wenn alle CO₂-Emissionen jetzt sofort gestoppt würden – was vollkommen illusorisch sei – würde die Trägheit des Klimasystems Latif zufolge dazu führen, dass die Erderwärmung in den folgenden Jahrzehnten noch um etwa ein halbes Grad zulegt. Und mit den zunehmenden geopolitischen Spannungen und dem Ausgang der Wahlen in den USA sei die Skepsis noch gestiegen, ob anvisierte Klimaziele überhaupt zu erreichen sind, warnte Gößling. Der gewählte US-Präsident Donald Trump hat angekündigt, fossile Brennstoffe wie heimisches Öl zu fördern und klimapolitische Maßnahmen von Amtsinhaber Joe Biden zu streichen.
Zur Prognose für 2024 hieß es von Copernicus: „Die durchschnittliche Temperaturanomalie für den Rest des Jahres 2024 müsste auf nahezu Null sinken, damit 2024 nicht das wärmste Jahr würde.“ Die Daten zeigen einen deutlichen Anstieg in den vergangenen Jahren: 2010 war es demnach zwischen Januar und Oktober erstmals ein Grad wärmer als im vorindustriellen Zeitalter. Seit 2015 ist dies dauerhaft der Fall.
Im Oktober dieses Jahres lag die durchschnittliche Lufttemperatur bei 15,25 Grad und damit 0,8 Grad über dem Durchschnitt dieses Monats der Jahre 1991 bis 2020 sowie um 1,65 Grad höher als im selben Monat der vorindustriellen Jahre. In 15 der zurückliegenden 16 Monate habe die Temperatur jeweils 1,5 Grad über dem vorindustriellen Mittel gelegen.
Die durchschnittlichen Meerestemperaturen erreichten Copernicus zufolge mit 20,68 Grad den zweithöchsten Wert in einem Oktober jemals und waren nur etwas niedriger als im Vorjahresmonat. Die anhaltend hohen Ozeantemperaturen seien mit den aktuellen Rekorden der bodennahen Lufttemperatur sehr eng verknüpft, erklärte Gößling. „Schließlich bedecken die Ozeane 71 Prozent der Erdoberfläche, und zusätzlich tragen die Luftmassen die Wärme des Ozeans auch über die Kontinente.“
Die Copernicus-Daten beruhen auf computergenerierten Analysen, die Milliarden von Messungen von Satelliten, Schiffen, Flugzeugen und Wetterstationen auf der ganzen Welt nutzen. Die Aufzeichnungen reichen bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts und teils bis 1850 zurück.
dpa/cuk